Gedenkrede von Dr. Marc Neugrösschel bei der Gedenkveranstaltung am 7. Oktober 2025

Gedenkrede zum zweiten Jahrestag des Terrorüberfalls auf Israel

vom 7. Oktober 2023

von Marc Neugröschel, gehalten in der Citykirche Aachen am 7. Oktober 2025

„Er fehlt uns wie die Luft zum Atmen“. Das sagte Tami Braslavsky im März über ihren heute 23jährigen Sohn Rom. Rom befindet sich seit dem 7 Oktober 2023 in Geiselhaft der palästinensischen Terrororganisation Islamischer Djihad. Neben der israelischen hat er auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Er ist einer von 240 Menschen, die während des von der Hamas angeführten Terrorangriffes auf Israel vor genau zwei Jahren in den Gazastreifen verschleppt wurde.

Er arbeitete als Sicherheitsmann auf dem Nova-Musikfestival. Dort, wo die Terroristen eines der schlimmsten Massaker ihres Überfalls verübten. Von den rund 1.200 Menschen, die am 7. Oktober ermordet wurden, waren 378 junge Frauen und Männer Teilnehmende dieser Rave-Party. Eigentlich hätte sie ein Fest der „Freundschaft, Liebe und unendliche Freiheit“ sein sollen – so lautete ihr offizielles Motto.

Anstatt zu fliehen, blieb Rom auf dem Festivalgelände, um anderen zu helfen – und wurde schließlich selbst von den Terroristen verschleppt.


„Er dachte immer an alle anderen, nur nicht an sich selbst“, sagt der 13-jähriger Ziv Braslavski über seinen großen Bruder Rom.

Ende Juli veröffentlichten die Geiselnehmer ein Video von Rom, das ihn verzweifelt und abgemagert zeigt. „Der Albtraum, den ich nicht zu träumen wagte, ist Wirklichkeit geworden“, sagte seine Mutter nach dem Ansehen des Filmmaterials. Sein Vater fügte hinzu, der Sohn, der einst so stark und seelisch gefestigt gewesen sei, wirke nun, als habe er jede Hoffnung aufgegeben: „Er hat in seinem ganzen Leben nie geweint – und jetzt sieht er aus wie jemand, der nicht mehr leben will“

Roms Cousine, Liron Oberländer erzählt, wie sie versucht, ihrem Cousin eine Stimme zu geben. Das Plakat mit seinem Bild trage sie überall mit sich. „Er verdient es“, sagt sie, „dass seine Geschichte bekannt wird“.

„Er verdient es, dass seine Geschichte bekannt wird.“ Diese Worte, bringen auf den Punkt, worum es am heutigen Jahrestag gehen sollte: die Geschichten jener Menschen in den Mittelpunkt zu rücken, die am 7. Oktober 2023 Opfer des wohl furchtbarsten terroristischen Überfalls in der Geschichte Israels und dem größten Massenmord an Juden seit dem Holocaust wurden.

Der 7. Oktober 2023 viel auf einen Samstag, der in Israel, als letzter Tag der Woche, ähnlich wie Sonntage in Deutschland, für viele Menschen arbeitsfrei ist. Gleichzeitig war nach dem hebräischen Kalender Simchat Tora, der jüdische Feiertag, an dem die zyklischen Lesungen der Thora von vorne beginnt. An diesem Tag wird in den Synagogen der erste Abschnitt des ersten Buch Mose gelesen: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Doch was an diesem Morgen geschah, hätte in keinem zynischeren Gegensatz zu dieser Erzählung vom „Anfang der Welt“ stehen könne.


Um 6:30 Uhr morgens heulen zuerst im Süden Israels, später auch in Tel Aviv und anderen Orten, die Sirenen des Luftalarms. Über 3 000 – manche Schätzungen sprechen von fast 4 000 – Raketen werden aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert. Gleichzeitig dringt eine Armee von rund 6 000 Angreifern aus dem Gazastreifen auf dem Land-, See- und Luftweg nach Israel ein. Sie infiltrieren Kibbutzim und Städte im Süden Israels, attackieren Wohnhäuser, überfallen Menschen in ihren Schlafzimmern.

Als die Terroristen in den Kibbutz Holit erreichen, der nur zwei Kilometer von der Südgrenze zum Gazastreifen entfernt liegt, versucht die Familie Matthias die Tür ihres Hause zu verbarrikadieren. Vergeblich. Die Terroristen eröffnen das Feuer. Kugeln und Splitter dringen durch die Fenster. Dann öffnen die Angreifer die Tür, werfen eine Granate, schießen weiter.

Die 50-jährige Deborah Matthias und ihr 49-jähriger Mann Shlomi werden vor den Augen ihres 16-jährigen Sohnes Rotem hingerichtet.

Zuvor verliert Shlomi seinen Arm, als er versucht, die Terroristen davon abzuhalten, in das Haus einzudringen.

Die Mutter bricht über ihrem Sohn zusammen, als sie versucht, ihn vor den Kugeln zu schützen. Ein Geschoss durchbohrt ihren Körper und trifft Rotem am Bauch.

Eine halbe Stunde lang bleibt Rotem reglos unter dem toten Körper seiner Mutter liegen, während er hört, wie die Terroristen im Hintergrund lachen und das Haus nach Überlebenden durchsuchen.

Er stellt sich tot, versucht, so wenig wie möglich zu atmen, damit die Angreifer ihn nicht bemerken.

„Ich betete, dass sie mich nicht finden“, erzählt er später.

Dann flüchtet er in die Waschküche und versteckt sich unter einer blutüberströmten Decke. Er schreibt eine WhatsApp-Nachricht in die Familiengruppe: „Mama und Papa sind tot. Es tut mir leid.“

Die Terroristen wollen sichergehen, dass niemand im Haus überlebt hat, und stecken es in Brand. Rotem flieht und wird von Soldaten der israelischen Armee gerettet.


Zum Verlust von Angehörigen, Freunden und Nachbarn kommt, dass viele Menschen ihre Häuser verloren und evakuiert werden mussten. Die angegriffenen Orte im Süden Israels wurden unbewohnbar – teils durch die Zerstörung selbst, teils durch die anhaltende Bedrohung aus dem Gazastreifen. Ihre Einwohner zogen in Hotels oder andere provisorische Unterkünfte. Viele verloren dadurch ihre Arbeit. Ihr Schicksal teilten sie mit den Menschen im Norden Israels, die aufgrund des Raketenbeschusses der Hisbollah aus dem Libanon ebenfalls ihre Wohnorte verlassen mussten. Die Schätzungen über die Zahl dieser Binnenflüchtlinge schwankten zeitweise zwischen 140.000 und 250.000.

Wie viele von ihnen eines Tages in ihre Heimatorte zurückkehren werden, ist ungewiss. Viele sind zu schwer traumatisiert oder haben Sicherheitsbedenken wieder in unmittelbarer Nähe zur Grenze des Libanon oder zum Gazastreifen zu leben.

Und doch beginnt in manchen Orten der Wiederaufbau, kehrt langsam wieder Leben in die zerstörten Gemeinden zurück.

Eine von ihnen ist der Kibbutz Nir Oz, der besonders schwer getroffen wurde.

Von den 400 Einwohnern der Gemeinde wurden 54 ermordet, 76 nach Gaza verschleppt.

Zurzeit sind noch 14 Mitglieder des Kibbutz in Geiselhaft; man vermutet, dass nur noch fünf von ihnen am Leben sind.

Die Solidaritätspartnerschaft Bergisch Gladbach – Nir Oz e.V., für die Sie heute Abend spenden können, hat bereits Beachtliches beim Wiederaufbau geleistet.

Sie engagiert sich zudem für die Betreuung der 18 Waisenkinder aus der Gemeinschaft, die am 7. Oktober ihre Eltern verloren haben.

Zurück zum Geschehen am Tag des Angriffs. Etwa zur gleichen Zeit, als das Haus der Familie Matthais in Holit anggeriffen wird, verstummt die Musik auf dem Nova Festival. Raketenalarm ertönt. Die Festivalbesucher fliehen entlang der Landstraße 232 Richtung Nordosten. Genau dort greifen die Terroristen an, eröffnen das Feuer auf die flüchtenden Menschenmassen und verwandeln die Route in eine Todeszone.


Unter den Fliehenden ist die 38-jährige Liraz Assulin.

Gegen 6:45 Uhr schickt Liraz ihrer Familie eine Sprachnachricht.

„Ich liebe euch“, sagt sie.

Im Hintergrund ist Maschinengewehrfeuer zu hören.

„Es hörte sich wie ein Abschied an“, erzählt Liraz’ jüngere Schwester Liz.

Wenige Minuten später versucht Or, eine weitere Schwester, Liraz anzurufen.

Sie hört arabisches Stimmengewirr.

Dann sagt jemand: „Die Jüdin ist tot, die Jüdin ist tot“, und legt auf.


Etwa eine Stunde später benutzt der Hamas-Terroist Mahmoud Afnas das Handy der Ermordeten Liraz, um aus dem Kibbutz Mefalsim seine Familie in Gaza anzurufen. In dem Telefonat, das von israelischen Sicherheitskräften abgefangen wurde, brüstet sich der Terrorist:

„Hallo, Papa – ich spreche aus Mefalsim. Öffne jetzt mein WhatsApp, dann siehst du die Getöteten. Schau, wie viele ich mit meinen eigenen Händen getötet habe. Dein Sohn hat Juden getötet … Ich spreche von dem Handy einer Jüdin – ich habe sie und ihren Mann getötet. Ich habe zehn mit meinen eigenen Händen getötet, Papa, zehn mit meinen eigenen Händen. Öffne WhatsApp und sieh, wie viele ich getötet habe … Mama, dein Sohn ist ein Held.“

Der Angriff vom 7 Oktober 2023 war ein antisemitisch motivierter Angriff auf Juden. Keine Reaktion auf kolonialistische Unterdrückung, wie es zum Beispiel im Aufruf zu einer Demo von der Aachener Palästina-Solidarität heißt, die jetzt gerade, eine Gehminute von hier, auf dem Marktplatz stattgefunden hat.

Kfar Aza, Be’eri, Nahal Oz, Nir Oz, Nirim, Kissufim, Alumim, Magen, Ein HaShlosha und Re’im – all diese angegriffenen Orte liegen in jenem Gebiet, das der UN-Teilungsplan von 1947 eindeutig dem jüdischen Staat zuwies. Keiner von diesen Orten verhinderte die Gründung eines palästinensischen Staates neben ihnen.

Der Gazastreifen steht seit 1994 unter palästinensischer Verwaltung – also seit nunmehr über zwanzig Jahren. Diese Verwaltung war frei und unabhängig genug, eine Terrorarmee aufzubauen, Waffenfabriken zu errichten und ein Tunnelsystem von über 500 Kilometern Länge zu schaffen. Zum Vergleich: Das Streckennetz der Londoner U-Bahn umfasst lediglich rund 400 Kilometer.

Wäre auch nur ein Bruchteil Mittel, die für den Aufbau dieser militärischen Infrastruktur aufgewendet wurden, in die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Gazastreifens investiert worden, hätte dieser sich längts zu einem prosperierenden palästinensischen Staat – oder einem Teil davon – entwickelt können.

Doch der Hamas geht es in erster Linie um die Zerstörung Israels, nicht um das Wohl der Palästinenser. Im Oktober 2017 fanden in Gaza Gespräche statt, die den Versuch einer Versöhnung verfeindeter palästinensischer Gruppierungen betrafen. In diesem Rahmen stellte der Hamas-Anführer Yahya Sinwar seine Position folgendermaßen klar: „Die Zeit, in der die Hamas über die Anerkennung Israels diskutierte, ist vorbei. Heute geht es darum, wann wir Israel auslöschen werden.“ (Times of Israel / Ynet, 19.10.2017). Sinwar war der Drahtzieher des Angriffs vom 7. Oktober; mittlerweile wurde er von Israel getötet.

Die getöteten Zivilisten des derzeitigen Gaza-Krieges rechtfertigt Sinwar als „notwendige Opfer“. In einem Brief an den Hamas-Politiker Ismail Haniyeh schrieb er, dass der Tod der umgekommenen Palästinenser „Leben in die Adern dieser Nation einhauchen und sie veranlassen werde, zu ihrer Herrlichkeit und Ehre aufzusteigen.“ (Wall Street Journal, 10.06.2024).

Für die Hamas ist der Krieg gegen Israel ein ideologischer Selbstzweck. So sagte der Hamas-Sprecher Taher El-Nounou im November 2023 der New York Times: „Ich hoffe, dass der Kriegszustand mit Israel dauerhaft wird.“ (New York Times, 08.11.2023).

Die Hamas ist der palästinensische Ableger der islamistischen Muslimbruderschaft, deren Gründer Hassan al-Banna sich in seinen Schriften auf Adolf Hitler beruft. (David Patterson, Judaism, Antisemitism, and Holocaust: Making the Connections, Cambridge University Press 2022, Kapitel 8 „Islamic Jihadism: The Legacy of Nazi Antisemitism“.) Mit Hitler teilte er die derealiserende antisemitische Auffassung, dass es beim Zionismus nicht darum ginge, den Juden eine Zuflucht oder Heimat zu schaffen, sondern eine Operationsbasis für deren vermeintliche Weltherrschaft – der klassische antisemitische Verschwörungsmythos. (David Patterson, “From Hitler to Hamas: A Genealogy of Evil,” ISGAP Flashpoint 2023.)


Youssef Karadwi, einer der profiliertesten Prediger der Muslimbrüder bezeichnete Hitler als Gottes Strafe für die Juden. 2009 sagte er in einer Predigt, die auf dem katarischen Sender Al Jazira übertragen wurde: „Ergreift die Juden — diese verräterischen Angreifer … dieses unterdrückerische, tyrannische Gesindel. Verschont keinen von ihnen — tötet sie bis auf den Letzten“. (MEMRI, Januar 2009)

Genau diese judenfeindlichen Vorstellungen stecken sowohl hinter dem Angriff vom 7. Oktober als auch hinter dessen Apologetik durch Aktivisten in der westlichen Welt.

Noch am 7 Oktober 2023 selbst, noch während sich die Terroristen der Hamas auf israelischem Territorium befinden, postet die amerikanisch-somalische Journalistin und Influencerin Najma Sharif auf Twitter: „Was habt ihr denn gedacht, was Entkolonialisierung bedeutet? Gute Stimmung? Aufsätze? Seminararbeiten? Lächerlich. Wenn nicht so — ja wie denn dann? Zeigt’s uns doch.“ Wenige Tage später demonstrieren Aktivisten in New York mit Transparenten auf denen Dinge zu lesen sind wie „Resistance is justified when people are occupied“, sinngemäß auf deutsch „Bewaffneter Wiederstand gegen Besetzung ist legitim“ oder „Palästina hat ein recht Wiederstand gegen Apartheid und Siedlerkolonialismus zu leisten“.

Eine auf Verschwörungsmythen basierender antisemitischer Angriff wird umgedeutet zum antikolonialistischen Widerstand. Oder genauer gesagt: die Stilisierung Israels zum imperialistischen kolonialistischen Unterdrücker ist Ausdruck und Adaption des antisemitischen Klischees von einem vermeintlich mächtigen und unterdrückerischem Weltjudentum.

Die Projektion westlicher Kolonialverbrechen auf den jüdischen Staat wird in den 60er und 70erJahren vor allem vom Propagandaapparat der stalinistischen Sowjetunion verbreitet.

In dieser Zeit definierte sie nicht nur den sowjetischen Antisemitismus, sondern motivierte auch antisemitische Terroranschläge deutscher Linksextremisten und palästinensischer Gruppen. So zum Beispiel den Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus in Berlin am 9. November 1969 oder, im Juni 1976, die Entführung der in Tel Aviv gestarteten Air France Maschine nach Entebbe, wo jüdische von nicht-jüdischen Passagieren getrennt wurden.

Heute wird die gleiche Ineinssetzung von Zionismus und Imperialismus ins Feld geführt, um den Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 zu rechtfertigen und dessen Opfer zu Tätern, zu bösartigen Kolonialisten zu stilisieren. Dabei handelt es sich, wie gesagt, um eine Derealisierung.


Nichts verbindet die deutsche Kolonialherrschaft in Westafrika oder die belgische im Kongo mit der Souveränität des Staates Israel. Die europäischen Kolonialherren besetzten fremde Länder fernab der Heimat, um sie wirtschaftlich auszubeuten und ihre Machtposition im imperialistischen Wettbewerb mit konkurrierenden Staaten zu stärken. Das Einzige, was die Kolonialisten mit den von ihnen besetzten Ländern verband, war das Interesse, sie auszubeuten.

Das Judentum hingegen hat seine Wurzeln in Israel. Das ist historisch und archäologisch unbestreitbar belegt. Sowohl in der religiösen jüdischen Tradition als auch in der säkularen jüdischen Alltagskultur ist die Bezugnahme auf das Land Israel seit Jahrtausenden allgegenwärtig und spielt eine zentrale Rolle für jüdische Identität und jüdisches Selbstbewusstsein. Man mag darüber streiten, ob sich daraus das Recht auf den jüdischen Staat in diesem Land ableitet. Doch egal, wie man diese Frage beantwortet: Der Anspruch auf diese jüdische Souveränität in Israel, wie sie im Zionismus artikuliert wurde, hat sicher nichts mit dem kolonialistischen Kalkül europäischer Imperialmächte zu tun.

Die vermehrte jüdische Einwanderung in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina im 20. Jahrhundert hatte nichts mit imperialistischen Großmachtambitionen zu tun. Sie war nicht der Versuch, eine Operationsbasis für eine jüdische Weltherrschaft zu schaffen, wie Hitler und al-Banna es behaupteten. Sie war der Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung von Juden auf der ganzen Welt geschuldet.

Obgleich fest in die Gesellschaften Europas integriert, wurden Juden dort zu fremden Eindringlingen aus dem Nahen Osten erklärt und verfolgt. Deshalb machten sie aus ihrem biblischen und historischen Ursprungsland, das zugleich eine geistige Heimat war, eine reale Heimat und gründeten unter anderem die Kibbuzim in der Negev-Wüste, die am 7. Oktober 2023 von den Hamas-Terroristen überfallen und zerstört wurden.

 

Ende des 19. Jahrhunderts bezeichnete der deutsche antisemitische Ideologe Wilhelm Marr Deutschlands Juden als „orientalische Fremdlinge“, die dem Abendland „durch die Römer aufgedrungen worden“ seien.

Im Deutschland der 1930er Jahre waren an allen Ecken Schilder zu sehen, die Juden „nach Palästina“ schickten.

 

Lebten Juden in Europa, wurden sie zu Eindringlingen aus dem Nahen Osten erklärt.

Gehen sie in den Nahen Osten, sind sie kolonialistische Besatzer.

„Geht zurück nach Polen!“ – das ruft ein Teilnehmer einer Pro-Palästina-Demonstration vor der New Yorker Columbia University im April 2024 einer Gruppe pro-israelischer und jüdischer Gegendemonstranten entgegen.

Auf einer Anti-Israel-Demonstration in London im Februar 2024 ist ein Transparent mit folgender Aufschrift zu sehen: „Der einzige Ort, an dem ihr zuhause seid, ist Jahanam.“

„Jahanam“ ist der islamische Begriff für die Hölle.

Mit dieser Parole rechtfertigt eine in ein Palästinensertuch gehüllte Aktivistin die Angriffe vom 7. Oktober. Nach ihrer Auffassung behaupten die Opfer des 7. Oktober zu Unrecht, dass sie in Israel zuhause seien. Sie hätten kein Recht, dort zu leben, und seien deshalb zu Recht von der Hamas überfallen worden. Doch auch an einem anderen Ort hätten diese Juden kein legitimes Zuhause; auch sonst gehörten sie nirgendwo hin – außer in die Hölle.

Dieser explizite Ausschluss von jüdischen Israelis aus der menschlichen Gemeinschaft bringt die islamitisch-antisemitische Rechtfertigung der Angriffe des 7 Oktober auf den Punkt. Die klassische antisemitische Vorstellung vom wandernden Juden, dem eine Heimat versagt wird, kombiniert mit der Vorstellung von Juden als verbündeten Satans, die in die Hölle gehören. Das ist Antisemitismus in seiner reinsten Form.

Die Verbreitung dieser ganz klassischen antisemitischen Ideen unter dem Deckmantel der Israelkritik führen zwangsläufig dazu, dass in Manchester und Halle Synagogen angegriffen werden.

Die antisemitische Dämonisierung von Israelis als heimatlose Teufel und kolonialistische Unterdrücker bildet darüber hinaus die Grundlage der Empathieverweigerung gegenüber den israelischen Opfern des 7 Oktobers.

Bereits im Oktober und November 2023, also unmittelbar nach dem Terror-Angriff, werden Poster mit Fotos der israelischen Geiseln in München, New York, Paris und anderenorts von Wänden gerissen. Gestern Nachmittag wurde eine junge Frau dabei gefilmt, wie sie im Nord-Londoner Stadtteil Muswell ein improvisiertes Mahnmal für Solidarität mit den Entführten zerstörte.

Ebenfalls in Großbritannien: Im vergangenen November cancelte das Exeter Dance International Film Festival die geplante Vorführung des Videos „Rave“: Bei der gefilmten Tanz-Choreographie handelte es sich um eine künstlerische Aufarbeitung des Massakers auf dem Nova-Festival.

Beim diesjährigen Eurovision Song Contest wird mit der israelischen Sängerin Yuval Raphael eine Überlebende des Massakers auf dem Nova-Festival ausgebuht, während sie ein Lied über Traumabewältigung vorträgt. Den Sendeanstalten gelang es irgendwie, das Konzert aus Pfiffen und Buhrufen, die den Vortrag Raphaels in der Basler Konzerthalle überlagerten, herauszufiltern.

Doch im Internet kursieren mit Handys gefilmte Zuschauervideos aus der Konzerthalle. Sie zeigen, mit welcher Aggressivität die junge Sängerin geschasst wurde. Man hört vor allem die Buhrufe und Pfiffe. Der eigentliche musikalische Beitrag auf der Bühne gerät in den Hintergrund. Man wundert sich, wie Raphael sich überhaupt auf ihre Performance konzentrieren konnte.

Vor der Halle, in der der Gesangswettbewerb stattfindet, protestieren Aktivisten gegen den Auftritt der israelischen Sängerin und verlangen ihre Disqualifikation.


Debatten über den Boykott israelischer Künstler, Sportler und Akademiker sind nicht erst seit dem 7 Oktober 2023 zu einem wiederkehrenden Ritual vor medialen Großereignissen und Konferenzen geworden.

Nächsten Monat will die European Broadcasting Union erneut über den Ausschluss Israels vom kommenden Eurovision Song Contest in Wien abstimmen. Bundekanzler Fredrich Merz sendete das richtige Signal, als er vorgestern in der ARD sagte, Deutschland solle auf die Teilnahme am ESC verzichten, sollte Israel tatsächlich ausgeschlossen werden.

Doch die Anfeindung Yuval Raphaels in Basel ist nicht einfach noch ein Fall anti-israelischer Diskriminierung. Denn es handelte sich um die beschämende Verhöhnung einer Überlebenden einer zutiefst traumatisierenden Gewalttat

Am 7. Oktober entkam die vom Publikum angefeindete Sängerin nur knapp dem Tod.

Yuval Raphael war auf dem Nova-Festival. Als der Raketenbeschuss aus Gaza losging, flüchtete sie in einen überirdischen Schutzraum nahe des Festivalgeländes. Solche Bunker sind im Süden Israels vielerorts zu finden – insbesondere an Straßen neben unbebauten Flächen. Sie sollen Menschen, die auf offener Straße vom Raketenalarm überrascht werden, Schutz bieten.

Von außen wirken diese Unterstände ein wenig wie Betonklötze oder befestigte Bushaltestellenhäuschen, die aus dem Wüstensand ragen.

Am 7. Oktober 2023 wurden sie zur Todesfalle für über hundert Besucher des Nova-Festivals, die versuchten, den Raketen und bewaffneten Angreifern zu entkommen.

Die gerade mal vier Quadratmeter großen Mini-Bunker haben nur einen Ein- und Ausgang. Für die 40 bis 50 Schutzsuchenden, die sich gemeinsam mit Yuval Raphael in dem kleinen Betonraum verschanzten, gab es kein Entrinnen, als sie gegen sieben Uhr morgens von den Hamas-Terroristen entdeckt wurden.


Die Angreifer schossen Maschinengewehrsalven auf die in dem Bunker gefangenen Menschenansammlung. „Ich schaute zu meiner Linken. Die junge Frau, die meine Hand hielt war tot“ erinnert sich Rapahel später.

Sie war eine von elf Überlebenden dieses Massakers. Acht Stunden lang kauerte sie zwischen den Leichen der Ermordeten neben und auf ihr. Sie erinnert sich, dass einer der leblosen Körper auf ihrem Bein lag. Sie stellte sich selbst tot, um nicht entdeckt zu werden. Immer wieder tauchten in dieser Zeit aufs Neue Terroristen auf, feuerten in den Bunker, um sicher zu gehen, dass niemand dort überlebt.

Für die damals 22jährige Yuval Raphael wurde die Musik ein Mittel, um ihr Trauma zu verarbeiten.

Es gibt keine Worte für die selbstgerechte Arroganz jener Zuschauer des Eurovision Song Contest, die diese junge, mutige Frau ausbuhten und dabei noch so taten, als würden sie für eine gerechte Sache demonstrieren.

Die Empathielosigkeit gegenüber den Opfern des 7. Oktobers ist unerträglich, genauso wie die damit verbundene Realitätsverweigerung.

Der Journalist Elad Simchayov des israelischen Fernsehsenders N12 konfrontiert einen Aktivisten, der am 17. Mai in Basel gegen den Auftritt Raphaels bei der Eurovision demonstrierte.

Simchayov zum Demo-Teilnehmer: „Yuval Raphael ging auf ein Musikfestival, als Terroristen kamen, ihre Freunde ermordeten, Menschen vergewaltigten und verstümmelten.“

Darauf antwortet der angesprochene, in eine Palästina-Flagge gehüllte Aktivist: „Das sind Fake News. Es gab keine Vergewaltigungen.“

Es gab Vergewaltigungen.

Ein israelisches Expertengremium hat Aussagen von siebzehn Zeuginnen und Zeugen dokumentiert, die über mehr als fünfzehn einzelne Fälle sexueller Gewalt berichteten – darunter Vergewaltigungen, Gruppenvergewaltigungen und Verstümmelungen.

Hinzu kommen 27 Aussagen von Ersthelfern, die in sechs verschiedenen Orten auf Dutzende von Fällen stießen, die eindeutige Spuren sexueller Gewalt erkennen ließen.

So schildern die Rettungskräfte, sie hätten die Körper halbnackter oder völlig nackter Frauen gefunden, einige von ihnen mit entblößtem Genitalbereich und gespreizten Beinen.

An mehreren Tatorten wurden Leichen – meist von Frauen – teils vollständig, teils von der Hüfte abwärts entkleidet, mit gefesselten Händen und Schusswunden, oft im Kopf- oder Genitalbereich, aufgefunden. In einzelnen Fällen waren sie an Bäume oder Pfähle gebunden.


All das wurde im öffentlich zugänglichen Dinah-Bericht festgehalten – es ist für alle nachlesbar.

Auch ein im Februar 2024 veröffentlichter Bericht der UN-Sonderbeauftragten für sexuelle Gewalt, Pramila Patten, kommt zu dem Schluss, dass es „plausible Gründe für die Annahme“ gebe, dass am 7. Oktober konfliktbedingte sexuelle Gewalt verübt wurde – darunter Vergewaltigungen und Gruppenvergewaltigungen. Zudem gebe es glaubhafte Indizien für Genitalverstümmelungen, sexualisierte Folter und andere Formen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung.

Für viele Pro-Palästina-Aktivisten zählt das nicht.

Im Rahmen meiner eigenen Forschungstätigkeit stoße ich immer wieder auf Stimmen, die davon überzeugt zu sein meinen, die Anschuldigungen sexueller Gewalt seien eine Erfindung, mit der Israel versuche, die Weltöffentlichkeit für seine politischen Zwecke zu manipulieren, um einen angeblich längst vor dem 7. Oktober geplanten Angriff auf Gaza zu rechtfertigen.

Damit reproduzieren auch sie den klassischen antisemitischen Verschwörungsmythos.

Genau hier, meine Damen und Herren, verläuft die Grenze zwischen legitimer Kritik an der Politik des Staates Israel und antisemitischer Dämonisierung.

Die Empathieverweigerung gegenüber den Opfern des 7. Oktober basiert auf der Annahme, dass ihre Geschichten ein Instrument politischer Manipulation seien, die inszeniert werde, um Palästinenser und andere Menschen zu unterdrücken.

Antisemitisch derealisiert wird auch Israels Gegenreaktion auf die Angriffe vom 7. Oktober. Ja, die humanitäre Lage in Gaza ist verheerend. Ja, die Menschen dort leiden. Ja, auch die vom Krieg, Hunger und Not betroffenen Palästinenser in Gaza verdienen unser Mitgefühl. Selbstverständlich darf man Kritik an der israelischen Regierung und ihrem militärischen Vorgehen üben und kaum irgendwo wird dies lauter getan als in Israel selbst. Doch wer die israelische Militäroperation zum Genozid verzerrt, der betont nicht das Leid der Palästinenser, sondern instrumentalisiert es, um Israel zu verteufeln.

Die Vorstellung vom massen- und völkermordenden Juden entstand nicht im Kontext der Debatte über den Gaza-Krieg. Im 16. Jahrhundert unterstellt Martin Luther Juden in einer seiner Tischreden, einen Sinn, der sie dazu treibe, Christen zu ermorden, wo immer sie dies nur könnten. In den frühen 1940ern verbreitete nationalsozialistische Propaganda die Erfindung von einem jüdischen Mordplan gegen das deutsche Volk. 2014 behauptete der britische Rechtsextremist Nick Griffin in einer Rede im Europäischen Parlament, „zionistische Suprematisten“ betrieben einen Völkermord an den von ihm so bezeichneten weißen, christlichen, einheimischen Völkern Europas; Stalin erklärte Zionismus zum Nationalsozialismus. Und spätestens seit der UN-Antirassismuskonferenz in Durban 2001 wurden Vergleiche zwischen Israel und Nazi-Deutschland zum Gemeinplatz im linksliberalen Diskurs.

Es sind diese Vorstellungen, die zur Entmenschlichung der Opfer des 7. Oktober und ihrer Umdeutung zu Tätern führen. Die junge Frau, die gestern Nachmittag in London dabei gefilmt wurde, wie sie mit einer Schere die an einem Zaun befestigten, gelben Bänder abschnitt, die an die israelischen Geiseln erinnern, sagte zu ihrer Rechtfertigung: „Völkermord zu verteidigen ist ekelhaft.“ (The Telegraph, 7. 10. 2025.)


Wer Israel kritisieren will, braucht nicht auf solche antisemitischen Stereotype zurückzugreifen.

Um die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel zu paraphrasieren: Es ist kein Ding der Unmöglichkeit, über palästinensisches Leid, Elend und auch Ungerechtigkeit im Nahostkonflikt zu berichten, ohne Invektive, antijudaistische Bilder und antisemitische Klischees zu benutzen.

Dieser Satz stammt aus der kürzlich erschienenen Neuauflage ihres Buches Toxische Sprache und geistige Gewalt, das Sie auch hier auf dem Büchertisch finden.

Am heutigen Tag gedenken wir den Ermordeten des 7. Oktober 2023.

 (phonetisch: Yehí zichrám barúkh) – Möge ihr Andenken ein Segen seinיהיה זכרם ברוך

Wir sprechen ihren Angehörigen unser Mitgefühl aus.

Auch hier, zwischen uns, befinden sich Menschen, die am 7. Oktober 2023 Familienmitglieder verloren haben. Wir trauern um Omer Chermesh aus Kfar Aza.

 

Wir hoffen auf eine baldige Rückkehr der Geiseln.

Aufgrund der Verhandlungen über den aktuellen Vorschlag zu einem Friedensplan gibt es neue Hoffnung. Doch damit sind auch Angst und Befürchtungen verbunden. Werden die so schmerzlich Vermissten am Ende tatsächlich freikommen? Sind sie überhaupt noch am Leben? Und wenn ja, wie geht es ihnen gesundheitlich?

Es sind diese Fragen, die die Familien der Verschleppten vielleicht gerade in diesen Tagen des Hoffens um so mehr zerreißen.

Wir wünschen den Angehörigen und Nahestehenden der Entführten viel Kraft. Wir hoffen, dass möglichst viele der Entführten bald lebendig und gesund zu ihnen zurückkehren.

Wir hoffen auf Frieden – Frieden zwischen Israelis und Palästinensern, Frieden zwischen Israel und den anderen Ländern des Nahen Ostens. Aber auch auf Frieden innerhalb der israelischen Gesellschaft, die durch die Debatten über die Ereignisse des 7. Oktober, über die Frage, wer Verantwortung dafür trägt, dass sie nicht verhindert wurden, sowie über die Reaktionen Israels auf den Angriff, gespalten ist.

Die israelische Gesellschaft streitet. Doch sie zeigt sich auch solidarisch. Freiwillige helfen in der vom Krieg getroffenen Landwirtschaft, beim Wiederaufbau der zerstörten Ortschaften oder leisten ehrenamtlich psychosoziale Betreuung. Alte Infrastruktur wird repariert, neue entsteht.


Immer wieder in der Geschichte haben der Staat Israel, seine Gesellschaft und das jüdische Volk beispiellose und verheerende Krisen überstanden. Auch heute geht das Leben in Israel weiter. Und deshalb haben wir auch in dieser schweren Zeiten Grund zur Hoffnung.

Um es mit den Worten des ESC-Beitrages von Yuval Raphael zu sagen: A New day will rise – Ein neuer Tag wird anbrechen

עם ישראל חי (phonetisch: Am Jisra’el Chai; übersetzt: Es lebe das Volk Israel)

Rede als pdf
von Elisabeth Paul 13. Oktober 2025
Mit großer Freude haben wir die Freilassung der noch lebenden Geiseln aus dem Gazastreifen verfolgt. Unsere Gedanken und Gefühle sind bei ihnen und ihren Angehörigen und Freund*innen. Wir hoffen, das es ihnen gelingt, ein neues Leben in Frieden führen zu können, ohne Hass, ohne Angst, ohne Bedrohung. Gleichzeitig trauern wir mit den Angehörigen und Freund*innen der getöteten Geiseln. Wir sind erleichtert, dass sie nun in der Lage sind, sich von ihnen verabschieden zu können und ihren Trauerprozess zu einem Abschluss bringen zu können. Wir hoffen auf einen dauerhaften Frieden, der es sowohl Israel als auch den Palästinenser*innen ermöglicht, ein friedliches Leben zu führen. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Hamas entwaffnet wird und die terroristische Infrastruktur zerstört wird. Die terroristische Hamas darf bei dem Aufbauprozess keine Rolle mehr spielen. Dies ist auch im Interesse der friedlichen palästinensischen Zivilbevölkerung, die ihren Widerstand gegen die Hamas ohne Gefahr für ihr eigenes Leben bisher nicht zum Ausdruck bringen konnte. Wir setzen große Hoffnungen in die Verantwortungsübernahme arabischer Staaten für die Umsetzung des 20-Punkte-Plans, für die Entwaffnung und Entmachtung der Hamas, für den Aufbau ziviler Strukturen, für den Wiederaufbau Gazas, für die Versorgung mit Lebensmitteln. Wir hoffen auf einen Neubeginn der palästinensisch-israelischen Beziehungen und eine friedliche Zukunft in Israel und Gaza. Darüber hinaus hoffen wir, dass der Friedensprozess auch positive Auswirkungen hat auf das Klima auf unseren Straßen, auf denen der Antisemitismus seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober ein unvorstellbares Ausmaß angenommen hat, das eine akute Bedrohung für jüdische Menschen darstellt. - Für die Deutsch-Israelische Gesellschaft Aachen e.V. - Elisabeth Paul
8. Oktober 2025
Redebeitrag von der Vorsitzenden Elisabeth Paul
3. Oktober 2025
Rede der Vorsitzenden
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